Perspektive

Es tut mir Leid, dass ich mich schon lange nicht mit einem Beitrag gemeldet habe. Wie ihr bereits mitbekommen habt, arbeite ich in der anästhesiologischen Abteilung, die auch die operative Intensivstation betreut. Dementsprechend sehe ich eine Vielzahl von unterschiedlichen Menschen und Krankheitsbildern. Einige dieser Patienten sind unmittelbar nach der Operation zur Überwachung bei uns und verlassen zügig die Intensivstation, wiederum andere haben einen etwas längeren Prozess und erfreuen uns länger mit ihrer Anwesenheit. Andere kommen im Rahmen ihres Aufenthalts bei Komplikationen zu uns und eine Anzahl der Patienten verlässt die Intensivstation nicht lebend.
Das ist der normale Prozess und der Alltag. Wenn jemand in das Krankenhaus kommt hat er ein gesundheitliches Problem, keiner kommt in das Krankenhaus, weil es ihm gut geht und er gesund ist (eine Schwangerschaft und Geburt zählen hier selbstverständlich nicht hinein). Im Allgemeinen besteht ein kurativer Ansatz, d. h. der Mensch, der in das Krankenhaus kommt, hat den Wunsch, behandelt zu werden und im besten Fall wieder gesund zu werden. Diesem Wunsch entsprechen wir auch sehr gerne, da das die Hauptaufgabe unser Arbeit und unseres Verständnisses als Ärzte, Pflegekräfte und medizinisches Personal ist. Doch wie gestaltet sich die Sachlage, wenn man am Ende eines Weges angelangt ist und die Entscheidung getroffen werden muss, welche Richtung eingeschlagen werden muss?

Ich habe in meiner Tätigkeit als Ärztin viele Menschen gesehen, deren Überlebenswille unglaublich ist, die kämpfen und siegen und ihre Krankheit überwinden können. Aber ich habe auch sehr viele Menschen gesehen, deren Überlebenswille und Mut nicht ausgereicht hat, gegen die Erkrankung zu kämpfen. Genauso oft habe ich Angehörige gesehen, die in der Position standen, in der sie über weitere Maßnahmen und Therapien im Sinne des Patienten entscheiden müssen und ich kenne keinen, dem die Entscheidung leicht gefallen ist, auch wenn sie Entscheidungen nie allein und endgültig treffen müssen.

Ich habe festgestellt, dass es unterschiedliche Arten von Menschen gibt. Meines Erachtens kommt es immer auf die Perspektive an. Die Perspektive, die die Menschen und der Patient haben. Jedem Einzelnen ist eine Entscheidung, wie der weitere Weg sich gestalten soll, schwer gefallen, allerdings haben die einen die Entscheidung im Frieden mit sich treffen können, die anderen konnten sich nicht zu einer Entscheidung durchringen, bis die Umstände ihnen die Entscheidung abnahmen. Ich habe lange darüber nachgedacht, was der Grund ist.
Jeder Mensch ist anders und nimmt jede Situation anders wahr. Allerdings sah ich, dass die Menschen, deren Perspektive ausschließlich auf das Leben gerichtet ist, eher hoffnungsloser und schwerer mit dem Lebensende und dem Tod umgehen konnten. Die Menschen, deren Hoffnung auf das Leben nach dem Tod, auf die Ewigkeit gerichtet war, konnten mit traurigem und schmerzendem Herzen ein „Ja“ zum Lebensende finden und einen Frieden darüber verspüren.

Dies alles hat mich in den letzten Monaten immer wieder aufs Neue beschäftigt. Und ich muss wieder aufs neue feststellen, dass es in diesem Leben auf die Hoffnung des ewigen Lebens ankommt. Wenn wir auf dieser Erde ohne diese Hoffnung leben, werden wir zwangsläufig an dem Konstrukt scheitern, weil das Leben zum Scheitern verurteilt ist. Es ist die Perspektive Ewigkeit, die uns durchträgt durch alle Schwierigkeiten und das Leid, bis wir im dem Land ohne Ende, dem Ort ohne Abschiede sind.

Praktikanten

Vor einigen Monaten habe ich nach Dienstschluss eine sehr junge Frau in der Umkleide gesehen. An der Kleidung konnte ich erkennen, dass es sich um eine Praktikantin handelt. Sehr wahrscheinlich machte sie gerade ein Schülerpraktikum.

Da ich mich für andere Menschen interessiere und gerne wissen will, wie sie denken, habe ich sie einfach angesprochen und gefragt, ob sie Praktikantin sei und wo sie eingesetzt ist.
Gerne gab sie mir die Auskunft und während sie von ihrem Praktikum erzählte, leuchteten ihre Augen und ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie auf der Station ihre Arbeit tut.

Während sie erzählte und ich ihr zuhörte, gingen meine Gedanken auf Wanderschaft. Ich wurde um Jahre zurückgeworfen und musste an meine Erlebnisse als Praktikantin im Krankenhaus denken. Mein erstes Praktikum im Krankenhaus machte ich als 17-jährige auf einer internistischen Station. Auf der einen Seite war die Station voller kranker Menschen und Vollpflegefällen, aber auf der anderen Seite habe ich dort soviel gelernt und mitgenommen. Damals habe ich auch die Entscheidung getroffen, Medizin zu studieren. Ebenfalls konnte ich mich noch gut daran erinnern, wie wichtig ich mir vorgekommen bin – ich leiste einen Beitrag dazu, dass Menschen gesund werden. Natürlich kann ich heute ein wenig über meinen Enthusiasmus schmunzeln. Die folgenden Jahre und die Arbeit im Gesundheitswesen hat mich schnell geerdet.
Aber wenn ich heute Praktikanten sehe, die voller Motivation ihre Arbeit tun und dankbar sind, wenn andere Menschen ihnen was beibringen, muss ich an mich selbst denken. Auch bei mir gab es viele Pfleger und Pflegerinnen, viele Ärzte und Therapeuten, Reinigungskräfte und Schreibkräfte, die mich auf meinem Weg begleitet und mich immer wieder ermutigt haben.

Wenn ich heute im OP-Saal einen Praktikanten oder Schüler habe, der seine Arbeit gut macht, der sich bemüht, auch wenn er noch ganz am Anfang seiner Ausbildung ist, nehme ich mir immer wieder aufs Neue vor: Diese Person soll eines Tages auf diesen Einsatz zurückblicken und sagen können, dass sie viel gelernt und mitgenommen hat und dass sie sich von mir ernstgenommen und wertgeschätzt gefühlt hat.

Buchrezensionen

[Dieser Beitrag enthält meine persönliche Meinung zu zwei Büchern, die ich als Rezensionsexemplare erhalten habe. Es handelt sich hier weder um Werbung noch um die Meinung des Verlags. Ebenso erhalte ich nichts für die Rezension, ausgenommen die Bücher.]

Ich habe vor einigen Monaten von eden-books zwei Bücher kostenlos bekommen. Mittlerweile habe ich sie auch durchgelesen und möchte euch einiges davon berichten.

Das erste Buch ist von Waltraud Mayer und erzählt von der Pionierin des Rettungsdienst. Da ich früher selbst im Rettungsdienst gearbeitet habe und zumindest am Anfang als Frau in der Unterzahl war, hat mich das Buch sehr angesprochen.
Zum Inhalt:
Die Karriere von Waltraud Mayer hat ganz unspektakulär bei einem Rot-Kreuz-Abend begonnen. Sie trat der Frauenbereitschaft bei und mit der Zeit wuchs ihre Faszination für den Sanitätsdienst. Doch der Rettungsdienst reizte sie sehr und so begann sie als ehrenamtliche Fahrerin. Leider bekam sie von ihrer Frauenbereitschaft viel Gegenwind und musste bittere Enttäuschungen erleben. Trotzdem verlor sie den Mut nicht und arbeitete sich hoch und arbeitete schließlich hauptamtlich im Rettungsdienst. Im Laufe der Zeit absolvierte sie auch einen Lehrgang und betreute im Rahmen der Krisenintervention betroffene Personen und Angehörige in Notfallsituationen. Bis zum 63. Lebensjahr fuhr sie hauptamtlich im Rettungsdienst, bis sie dann in den wohlverdienten Ruhestand trat – viel Pause hatte sie nicht, sie fuhr immer wieder Blutkonserven oder auch als Aushilfe im Rettungsdienst.
Folgende Sätze fassen ihre Arbeit und ihre Leidenschaft gut zusammen: „Es waren spannende und schöne Zeiten. […] Ich hatte immer ein offenes Ohr, packte mit an und behielt in schwierigen Situationen einen klaren Kopf. Mein Beruf gab mir die Anerkennung und ein Zugehörigkeitsgefühl, und ich hätte mir keinen anderen vorstellen können. Auf alle Fälle ist die Arbeit im Rettungsdienst für Menschen, die es lieben anderen zu helfen – also für Menschen wie mich.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Waltraud Mayer sehr interessant und trotzdem unspektakulär schreibt. Sie erzählt von verschiedenen Situationen, ohne Sachen zu verharmlosen oder zu dramatisieren. Ebenfalls fällt die gut verständliche, nicht zu sehr medizinische Sprache positiv auf.
Fazit: Das Buch ist sehr zu empfehlen.
Eckdaten: Waltraud Mayer, Eine muss die erste sein. Erschienen bei eden-books für 16,95€.

Das zweite Buch ist von dem Ehepaar Dr. Nicole und Dr. Christian Knobloch geschrieben. Beide sind Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie und haben eine Praxis im Ruhgebiet.
Abwechselnd schreiben beide über verschiedene Krankheitsbilder und Patienten.
Zum Inhalt:
Das Buch ist in 30 Kapitel unterteilt; in jedem Kapitel wird ein Krankheitsbild oder eine Erkrankung beschrieben. Bei manchen Kapitel werden noch ergänzende Informationen gegeben. Das Spektrum ist weit: beginnend mit Muskelschwäche, Epilepsie, dissoziativen Krankheitsbilder und Demenz, erfährt der Leser im Verlauf auch mehr über bipolare Störungen, Depressionen, Schizophrenie und über seltene Erkrankungen wie z. B. eine Autoimmunenzephalitis.
Beide Autoren schreiben sehr angenehm und interessant. Fachbegriffe werden erklärt und das Buch kann jeder lesen, auch wenn er mit der Medizin nicht viel zu tun hat. Mich hat das Buch sehr motiviert, selbst auf Rätselsuche zu gehen und ich habe mich immer gefreut, wenn meine Verdachtsdiagnose am Ende stimmte.
Fazit:
Das Buch kann ich sehr empfehlen. Man hört heraus, dass beide Ärzte ihren Job lieben und der Patient im Mittelpunkt der Bemühungen steht. Gerade in der Neurologie und Psychiatrie sind solche Menschen wichtig. Besondere Relevanz gewinnt der Fakt, dass eine ihrer vier Töchter an einer geistigen Behinderung leidet. Für die Familie ist diese junge Frau ein „Fels in der Brandung“, welche die Texte in dem Buch in vielen Aspekten bereichert hat.
Eckdaten: Dres. Nicole und Christian Knoblauch, Im Labyrinth der Nerven. Erschienen bei eden-books für 18,95€.

Rollenwechsel

Fachkrankenpfleger: „Was sollen wir tun?“

Ich: „Hm, vielleicht erstmal den Arzt rufen?“

Fachkrankenpfleger: „Ehm, DU bist der Arzt! Also, was sollen wir tun?“

In den letzten Jahren hat sich einiges getan. Ich bin nun nicht mehr in Rettungsdienst tätig, sondern arbeite in einem mittelgroßen Krankenhaus in der Anästhesie. Der kurzfristige Plan ist, erstmal zurecht zu kommen und das jahrelange Studium anwenden zu können. Langfristig gesehen möchte ich wieder im Rettungsdienst arbeiten, dann als Notärztin.
Trotzdem bleibt der Grundton des Blogs bestehen. Auch weiterhin werden die Skills, die ich im Rettungsdienst gelernt haben, eine Rolle spielen. Die Geschichten werden sich ein wenig ändern, aber ich hoffe, dass meine Leser mir erhalten bleiben.

Bleibt dabei 🙂 nun mitten aus OP-Saal, Anästhesie und Intensivstation gebloggt.

Später

Die ältere Dame, die im Behandlungszimmer sitzt, wirkt sehr aufgeregt und verängstigt. Ihr bekannte Herzkrankheit, die sie normalerweise gut im Griff hat, hat sich in den letzten Tagen sehr verschlechtert.
Heute wurde sie in die Notaufnahme gebracht, weil ihre Beschwerden zu stark waren. Es stehen nun einige Untersuchungen und Behandlungen an.
Während sie auf der Liege sitzt und mich aus großen Augen ansieht, zeigen ihre stockende Worte, dass es nicht ausschließlich um ihre Symptome geht. Sie berichtet von kürzlich erlebten Situationen, in denen Freunde gestorben sind. Einfach so, ohne dass es abzusehen war.
Als sie fertig ist, sehe ich, dass sie eine Antwort von mir erwartet. Von mir, einer Person, die soviel jünger als sie ist. Leise und behutsam sage ich ihr, dass es wichtig ist für jeden, ob Erwachsener oder Kind, bereit zu sein, aus dem Leben zu gehen. Es ist wichtig, seine Angelegenheiten zu jeder Zeit geordnet zu haben. In einem weiteren Satz merke ich an, dass wir nie wissen, wann wir den letzten Atemzug machen und vor dem Schöpfer des Lebens stehen.
Ich merke, dass die Frau abwehrend reagiert und beschließe, das Gespräch von meiner Seite zu beenden und lenke die Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Untersuchung. Dankbar ergreift die Patientin den Rettungsanker und ich spüre: sie kann sich im Moment nicht auf die Situation einlassen, auch wenn sie innerlich große Angst verspürt.

Wechsel. Anderer Ort, anderer Patient, anderer Fall.

Die Patientin, die vor mir auf der Liege liegt, krümmt sich vor Schmerzen. Jeder kann sofort sehen, dass es ihr nicht gut geht und sie dringend Hilfe benötigt. Angstvoll umklammert sie meine Hand und möchte, dass ich die ganze Zeit dableibe. Drehe ich mich von ihr weg, fleht sie mich an, sie anzuschauen.
Sie hat bereits etwas gegen die Schmerzen erhalten, aber es bringt nicht viel. Plötzlich schaut sie mich an: „Ich will sterben. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“ Noch bevor sie die Worte ausgesprochen hatte, wusste ich, dass sie nicht mehr lange leben wird. Ihre tödliche Grundkrankheit wird ihren Tribut fordern. Was sage ich ihr? Welche Antwort gebe ich auf ihre flehende, nicht ausgesprochene Frage.
Während ich ihre Hand festhalte und ihr in die Augen schaue, sage ich leise: „Nach dem Tod beginnt ein anderes Leben und wir können uns schon hier auf der Erde darauf vorbereiten. Worauf es ankommt, ist Frieden zu haben.“ Doch noch während ich rede, spüre ich, dass sie meinen Worten nicht zugänglich ist, dass sie diese Worte nicht aufnehmen kann. Es bleibt mir nichts übrig, als still neben ihr zu sitzen, ihre Hand zu halten und zu beten.

Wechsel. Anderer Ort, anderer Patient, anderer Fall.

Der Patient liegt ruhig im Bett. Nichts deutet darauf hin, dass er mich hört oder versteht. Sacht ziehe ich die Decke zur Seite und erkläre jeden Schritt, auch wenn er vielleicht gar nichts hört. Ich lege ihm einen venösen Zugang und während ich die Flüssigkeit langsam in die Vene hineintropfen sehe, gehen meine Gedanken auf Wanderung. Wer ist der Mann? Wie hat er gelebt? Konnte er, bevor er hierher ins Krankenhaus kam, mit seiner Familie reden? Hatte er die Möglichkeit, langjährige Konflikte zu beenden? Kann er in Frieden gehen, wenn er stirbt?
Diese Fragen kann mir keiner beantworten.

Was lehrt uns dies alles? Im alltäglichen Leben wird uns die Präsenz des Todes nicht bewusst. Aber er ist da. Auch wenn wir ihn nicht sehen können, spiegelt jedes Leben die Vergänglichkeit des Seins wider.
In all den Situationen, in denen ich mit dem Tod und Sterben konfrontiert war, habe ich festgestellt, dass man in dieser Zeitspanne, in der das Leben endet, keine Entscheidungen treffen kann, die man nicht schon lange vorher entschieden hat.

Der Feind

Der Mann, der vor mir sitzt starrt auf den Boden, er scheint kaum auf meine Anwesenheit zu reagieren. Ich spreche ihn nochmals an, da hebt er langsam den Kopf und stiert mich mit blutunterlaufenen Augen durchdringend an.

„Was haben Sie gesagt?“

Ich wiederhole meine Frage und da bricht es aus ihm heraus:

Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Mich macht das alles fertig. Ich schaffe es nicht allein. Ich habe es versucht, aber es geht nicht. Ich will so nicht weiterleben.“

Er scheint nicht aggressiv zu sein, deshalb bleibe ich auch ruhig sitzen und höre ihm zu, während er mit unbeherrschter Stimme seine Lage schildert. Er kann nicht ruhig sitzen, seine Hände zittern, die Füße stehen nicht still. Als ich ihm einen Zugang lege und Blut abnehme, muss ich jeden Schritt genau ansagen, da er sonst die Hand wegziehen kann. Die Untersuchung gestaltet sich ebenfalls schwierig, er kann nicht ruhig stehen bleiben und als ich das Herz abhöre, höre ich deutlich seine Aufregung.

Nachdem ich fertig bin, überlasse ich den Patienten dem Krankenhaus, der Station, der Pflege. Ich muss aber noch die letzte halbe Stunde Revue passieren.

Alkohol – wenn der (vermeintliche) Freund zum schlimmsten Feind wird.

Das Gebet eines Notfallsanitäters

Herr,
du weißt, was an diesem Tag vor mir liegt.

Du weißt, wer mich heute um Hilfe bitten wird und welche Menschen sich in Situationen befinden werden, die sie sich nie vorgestellt haben und aus denen sie keinen Ausweg finden.

Aus diesem Grund bitte ich dich voller Demut, dass du mich mit deinen Engeln umgibst, damit jede meiner Entscheidungen und Taten durch dich gelenkt ist.

Ich bitte dich, für alle, die mich um um Hilfe anflehen und auch für die, die nicht mehr bitten können, ein guter Samariter zu sein, der ihnen hilft und sie rettet.

Hilf mir, so vielen wie nur möglich zu helfen. Und wenn mein Gesicht das letzte ist, das sie hier auf Erden erblicken werden, dann bitte ich dich, dass sie Augen sehen, die deine Liebe für sie widerspiegeln.

Verfasser unbekannt

Der Unterschied

Es ist später Vormittag. Die Sonne scheint ziemlich warm für einen Herbsttag und während wir zwischen Feld und Wiese fahren, bin ich fast glücklich, dass heute so ein schöner Tag ist.

Wir werden am Einsatzort empfangen und zum Patienten geführt. Ein sehr junger Mann liegt auf der Couch und schaut uns etwas gequält an. Schmerzen hat er und das auf der linken Seite. Es lässt sich nicht ganz eruieren, ob die Schmerzen eher Richtung Rücken sind, ob in der Herzgegend oder am Brustkorb. Aber Schmerzen hat er und sein Augen schauen mich sehr verängstigt an. Wir arbeiten unsere Standardprogramm ab und können zwar erstmal lebensbedrohliche Erkrankungen ausschließen, jedoch ändert sich kaum was an der Situation.
Mittlerweile hat sich auch die Notärztin mit dem Patienten befasst, stellt ihm einige Fragen und untersucht ihn.
Ich kann mir nicht helfen, aber ich kann mich eines unguten Gefühls nicht entwehren. Liegt es daran, dass der Patient der deutschen Sprache nicht so mächtig ist? Liegt es daran, dass er augenscheinlich zu entspannt wirkt, um tatsächlich Schmerzen zu haben? Liegt es daran, dass er viel zu jung ist, um gefährliche Erkrankungen zu haben? Ich weiß es einfach nicht.
Mit einem überlegenen Lächeln schaut die Notärztin unser Team an: „Also, der hat doch nichts, ist wahrscheinlich entweder irgendwas muskuläres oder irgendwas hier“, und mit den letzten Worten tippt sie sich vielsagend an die Schläfe und zieht die Augenbrauen bedeutungsvoll hoch.

Schnell ist die Entscheidung gefällt worden, dass wir als Rettungswagen allein in die Klinik fahren und das ist mir ganz lieb so. Endlich kehrt bisschen Ruhe in meinem Rettungswagen ein und ich kann mich mit dem Patienten unterhalten. Langsam und mühsam ist das Zwiegespräch, ich muss oft einige Worte wiederholen, mal etwas lauter sprechen. Ja, die Maske, die dicht an meinem Gesicht sitzt, erschwert die Kommunikation. Aber ich erfahre trotzdem alles, was ich wissen will und stellenweise sehe ich auch ein Lächeln im Gesicht des jungen Mannes.

Nach der Übergabe in der Klinik beschäftigt mich diese Situation noch lange. Es liegt nicht daran, dass der Einsatz besonders kompliziert war, oder dass das Krankheitsbild so komplex war. Es liegt nicht daran, dass wir uns großer Gefahr ausgesetzt haben oder aufs Äußerste gehen mussten.
Ich stelle mir die Frage, warum Menschen andere Menschen nicht mit dem Respekt behandeln, der jedem Menschen zusteht. Während ich die Bilder in meinem Inneren vorbeiziehen lasse und vor Augen habe, wie verängstigt, gequält, beunruhigt, schmerzgeplagt der junge Mann auf der Liege lag und wie anmaßend, arrogant und gewissermaßen auch verachtend die Menschen um ihn herum waren, wünsche ich mir nur eines, dass der Mann in Erinnerung behält, dass ich ihm auf dem Weg in die Klinik das Gefühl geben wollte, dass ich ihm helfen will, dass ich seine Situation nicht herunterspiele und dass ich weiß, dass er eine Behandlung benötigt.

Viele stellen sich vor, dass es im Rettungsdienst um eines geht: um spektakuläre Ding, die am Besten mit Blaulicht gefahren werden.
In all den Jahren im Rettungsdienst habe ich gemerkt, dass es um das Eine geht: Den Unterschied machen.

Die Menschen werden sich vielleicht nicht mehr daran erinnern, wie ich aussah, ob ich eine Brille hatte, ob meine Jacke rot oder orange war. Sie werden vielleicht nicht mehr so genau wissen, ob wir einen Zugang gelegt haben oder ob wir Blut abgenommen haben. Sie werden sich möglicherweise gar nicht erinnern, wie viele Menschen vor Ort waren.
Aber sie werden sich erinnern, wie es ihnen ging, als ich hereinkam. Sie werden sich erinnern, was sie gefühlt haben, als ich ihnen Fragen gestellt haben. Sie werden sich erinnern, wie ich sie gebeten habe, sich für Untersuchungen das Shirt hochzuziehen. Sie werden ganz genau wissen, wie ich mit ihnen gesprochen habe, als ich ihnen die Untersuchungsergebnisse mitgeteilt habe. Sie werden sich erinnern, ob ich mich bemüht habe, ihnen die Angst zu nehmen, sie werden sich erinnern, ob ich ihnen gesagt habe, dass es im Rettungswagen wackelt und sie werden sich erinnern, ob ich ihnen zum Abschied ein freundliches „Gute Besserung“ gesagt habe.
Sie werden sich erinnern, wie sie sich gefühlt haben und dies ist wirklich das einzige, worauf es ankommt: Mache ich den Unterschied?

Ohne Worte

Das Telefon klingelte. Meine Kollegin steht von der Couch auf und nimmt das Gespräch an. Schweigend hört sie zu, nickt ab und zu und legt langsam den Hörer auf. Dann schaut sie mich einen Moment schweigend an, bevor sie mit einem erstaunlichem Auftrag herausrückt. Auch ich sehe ein wenig ratlos aus und still begeben wir uns in unser Auto. Wir sollen zwar mit Sonderrechten fahren, jedoch handelt es sich hierbei um keinen schweren Unfall oder eine lebensbedrohliche Situation.
Meine Kollegin auf dem Beifahrersitz beginnt laut nachzudenken, was uns nun wohl erwartet und wie wir in dieser Situation reagieren sollen. Was müssen wir sagen, was sollen wir sagen und wie sollen wir auf keinen Fall handeln?
Schwieriger Fall, denn keiner von uns beiden war jemals in solch einer Situation.

Schneller als gedacht stehen wir von dem Haus. Das Martinshorn und die Blaulichter haben wir schon im Ortseingang ausgemacht. Ich parke das Auto in der Einfahrt und dann gehen wir beide einfach die Treppen hoch in die Wohnung. Unsere Hände sind seltsam leer, wir brauchen kein Material, kein EKG, keine Absaugpumpe.
An der Tür erwartet uns schon ein Polizist, erleichtert sieht er uns beide an und stillschweigend reichen wir uns die Hände. Leise klärt er uns über die Situation auf und nach einigen kurzen Worten verschwinden er und sein Kollege.

Wir stehen in der kleinen Wohnung, vor uns ist diese Frau, die ich bis heute vor Augen habe. Klein, rötliche Haare, erstarrtes Gesicht, keine Regung ist zu lesen, keine Tränen sind zu sehen. Und doch ist die Verzweiflung wie eine unsichtbare Mauer um sie herum aufgetürmt. Mechanisch bittet sie uns in ihre Küche. Immer wieder kommen kurze Sätze, verzweifelte Fragen und bittere Worte. Nebenher macht sie sich Kaffee, bietet uns auch eine Tasse an.
Wir sitzen am Tisch und hören ihr zu. Versuchen, ihr Antworten zu geben, versuchen, ihre Bitterkeit aufzufangen. Versuchen, ihren Schmerz zu lindern. Und doch wissen wir, dass unsere Worte ins Leere gehen, dass unsere Antworten ungehört verhallen und unsere Bemühungen aktuell nicht fruchten werden. Und doch sitzen wir da und hören zu, lassen sie reden, sie fragen, sie weinen, wenn sie noch weinen kann.
Die Minuten kriechen dahin, die Zeit scheint jedoch still zu stehen. Wie lange wir vor Ort sind, wissen wir nicht, das ist auch nicht so wichtig, der Kollege der Leitstelle weiß Bescheid, dass wir gebraucht werden und er lässt uns die Zeit, ohne nachzufragen, wie lange wir noch brauchen.

Als wir nach geraumer Zeit in unserem Auto sitzen, ich mich wieder auf der Straße befinde und in den hellen Wintertag fahre, dessen Licht getrübt zu sein scheint, drängt sich in meinem Herzen immer wieder die Frage auf: „Welchen Trost kannst du einer Mutter geben, die vor paar Minuten hören musste, dass ihr Kind tödlich verunglückt ist, nie wieder zurückkommt, nie mehr da sein wird?“
Und innerliche schließe ich die Augen und versuche, den Schmerz zu fühlen. Leise muss ich zugeben, dass ich das nicht kann. Und während ich weiter fahre, bringe ich immer mehr Kilometer zwischen mir und der Frau, deren Welt innerhalb eines Moments zerbrochen ist.
Es könnte sich Frust, Traurigkeit und Wut einschleichen. Doch ich entscheide mich für das Andere: ich bin dankbar, dass ich für sie da sein konnte und ihr, wenn auch nur minimal, helfen konnte, die Schrecklichkeit des Tages zu begreifen. Und wenn dies das Einzige ist, so weiß ich, dass es sich gelohnt hat. Denn es lohnt sich. Immer.